Warum Medienkompetenz allein nicht ausreicht
Geschrieben von patrick am 10.05.2017
Wir leben im Zeitalter der Digitalisierung. In einem Zeitalter in dem Kinder immer früher mit Smartphones, Tablets und Computern in Kontakt kommen. Die Weiterentwicklung dieser Geräte und der Internetangebote bringt jedes Jahr spannende Neuerungen hervor. Längst schreiben Kinder keine SMS mehr, bei denen peinlich genau auf die Anzahl der verwendeten Zeichen geachtet werden muss. Sie chatten, von unterwegs, zuhause, beim Essen, vor dem Schlafengehen und nach dem Aufstehen. Ob man diese Entwicklung nun gutheißt oder verteufelt, so lässt sie sich nicht umkehren. Kinder werden jederzeit verfügbar sein und die neusten Apps und Bots für ihre Kommunikation nutzen. Sie müssen es sogar, wenn sie up to date bleiben wollen. Denn in der Berufswelt der Zukunft werden die Vernetzung, Erreichbarkeit und Transparenz obligatorisch. Vielfach sind sie es heute schon. XING und LinkedIn für den Headhunter, Facebook und Twitter, um nach charakterlichen Mängeln zu suchen und Skype für das Vorstellungsgespräch. Wer sich nicht auskennt, wird abgehängt. Die 80er Generation, die Digital Natives, erklären ihren Eltern die Internetwelt und glaubten, dass sie immer den Finger am Puls der Zeit haben würden. Aber bei Hauls, Let’s Play und musical.ly sind auch die meisten von uns mittlerweile überfragt. Die nächste Generation ist uns bereits einen halben Schritt voraus und hat sich ihre eigenen Nischen gesucht. Dabei sind Kinder lediglich sehr kompetent in der Nutzung der Geräte, nicht jedoch in der Nutzung der Medien mit all ihren Dimensionen. Und gerade, weil die Eltern oft aufgegeben haben, die digitalen Medien und ihre vielen Inhalte zu begreifen, birgt deren Nutzung enorme Gefahren.
Was ist Medienkompetenz?
Es gibt viele Theorien zu den verschiedenen Dimensionen von Medienkompetenz. Die Urtheorie stammt vom “Erfinder” des Begriffs Medienkompetenz, Prof. Dr. Dieter Baacke. Laut Baacke (1973) bilden die vier Dimensionen der Medienkompetenz:
- Medienkritik (Fähigkeit problematische gesellschaftliche Prozesse analytisch zu erfassen, reflexiv auf sich und sein Handeln anzuwenden und dieses Handeln ethisch verantwortungsbewusst zu gestalten),
- Medienkunde (Wissen über moderne Medien und Mediensysteme “Wie benutze ich einen Computer? Wie formatiere ich eine Worddatei?”),
- Mediennutzung (Fähigkeit die Inhalte rezeptiv zu nutzen und interaktiv damit umzugehen) und
- Mediengestaltung (Innovative Veränderung eines Mediensystems und die kreative ästhetische Gestaltung).
Just my two Cents: Wer in allen vier Dimensionen gut ausgebildet ist, kann sich wohl für rundum medienkompetent halten. Aber wer ist das schon? Wie weit kann es mit der Medienkritik der Kinder her sein, wenn wir selbst völlig unkritisch mit den Medien umgehen? Die Einschaltquoten von menschenverachtenden Formaten wie Bauer sucht Frau, Deutschland sucht den Superstar und natürlich Ich bin ein Star holt mich hier raus aka Dschungelcamp sind nach wie vor gut genug für die Prime Time. Wie bringt man einem Kind bei, sein Handeln mit den Medien ethisch verantwortungsbewusst zu gestalten, wenn wir Erwachsene es nicht vorleben. Die wenigen Kinder, die noch bei Facebook aktiv sind, können dort beobachten, wie Erwachsene trollen und Hasskommentare verbreiten. An Medienkritik ist schon bei uns Erwachsenen wenig vorhanden. Wie soll man etwas, was man anscheinend selbst nicht begreift und lebt, an die nächste Generation weitergeben ohne unglaubwürdig und heuchlerisch zu wirken? Was die Medienkunde angeht, sind Kinder oft sehr fit, können schon mit zwei Jahren ein Tablet bedienen. Aber dennoch schlagen Arbeitgeber immer wieder die Hände über dem Kopf zusammen, wenn die neuen Auszubildenden oder Trainees nicht einmal die einfachsten Befehle bei Excel beherrschen oder wissen, wie man eine Powerpoint Präsentation gut aussehen lässt, obwohl sie mit der Technik aufgewachsen sind. Wie man die Medien rezeptiv nutzt, sodass man ohne viel Anstrengung eine zwei mit Quiesel für ein Referat in der Schule bekommt, wissen wir alle hust wikipedia hust. Aber wie eine vernünftige Literaturrecherche für eine wissenschaftliche Arbeit durchgeführt wird, wissen viele auch nach dem Bachelorabschluss nicht. Was die Mediengestaltung angeht, ist es wohl wie mit der Kunst: Wer Lust und/oder Talent hat, betätigt sich eben künstlerisch. Wer einen Blog-Beitrag schreiben will, tut dies eben und wer bei Wikipedia einen Artikel gestalten will, kann dies tun. Das sind übrigens der Ein-Prozent-Regel zufolge nur, naja, ein Prozent.
Was nützt Medienkompetenz gegen das Kontrolldelikt Cyber-Grooming?
Auf einer Podiumsdiskussion auf der CeBIT sagte Julia von Weiler, Vorsitzende des Vereins Innocence in Danger, dass Medienkompetenz allein nicht ausreichend ist, um Kinder vor dieser Gefahr zu bewahren. Das kognitive Gefälle zwischen Täter und Opfer sei nicht durch Aufklärung auszugleichen. Trotz der strukturellen Überlegenheit der Täter, ist eine Aufklärung der Kinder und Unterricht in Medienkompetenz sinnvoll. Hier fordert die große Mehrheit von 82% der Lehrerschaft Fortbildungen und 73% eine Aktualisierung des Lehramtsstudiums hinsichtlich Digitalisierung (Bitkom, VBE & LEARNTEC, 2015). Nicht nur für Lehrerinnen und Lehrer wäre eine Weiterbildung in Sachen digitale Medien eine gute Präventionsmaßnahme gegen Cyber-Grooming und Cyber-Mobbing. Der Aufbau von Medienkompetenz bei den Eltern könnte die digitale Kluft zu ihren Kindern überbrücken und so ein Sich-Anvertrauen erleichtern (vgl. Dekker, Koops & Briken, 2016, S. 83ff). Schon durch die Wahrnehmung der Eltern als kompetente Gesprächspartner bei Problemen im Internet oder Instant Messenger Chat, könnten viele Straftaten in den Anfängen entdeckt oder vereitelt werden. Denn bei Cyber-Grooming und Cyber-Mobbing handelt es sich um Kontrolldelikte. Das bedeutet, dass nur wenige Fälle per Zufall durch die Eltern bei der Kontrolle des Smartphones entdeckt werden. Nur etwa 2% der Kinder und Jugendlichen, die unfreiwillig mit sexuellem Bildmaterial konfrontiert wurden, haben dies ihren Eltern oder anderen Bezugspersonen gemeldet (Wolak, Mitchell, & Finkelhor, 2006).
Vertrauen ist gut…
Es ist davon auszugehen, dass viele Kinder und Jugendliche auch den weiteren Verlauf einer Grooming-Kommunikation nicht melden würden. Eine Aufklärung der Eltern, die ein verstärktes Kontrollverhalten zur Folge hat, könnte ein probates Mittel sein, um Cyber-Grooming Delikte zu erkennen: Es zeigte sich bei Mitchell, Finkenhof und Wolak (2003), dass eine starke Kontrolle durch die Eltern, mit einer geringeren Ausmaß an unfreiwilliger Konfrontation mit sexuellen Bildmaterial zusammenhängt, Kinder sich also weniger oft in Situationen begeben, in denen sie solches Bildmaterial erhalten könnten. Allerdings ist die ständige Kontrolle durch die Eltern praktisch kaum umzusetzen. In einer Gesellschaft in der beide Elternteile oft in Vollzeit arbeiten müssen und ihre Kinder erst am späten Nachmittag aus der Ganztagsschule abholen können, bleibt weniger Zeit für die Erziehung der Kinder (Guryan, Hurst & Kearney, 2008, S. 36). Laut einer Studie des Statistischen Bundesamts (2012/2013) verbringen deutsche Eltern etwa 120 Minuten pro Tag mit ihren Kindern. Bei Essen kochen, Fahrten zur Musikschule oder Sportverein, Körperpflege und Hausaufgabenbetreuung bleibt wenig Zeit, um noch die gesamte Kommunikation auf dem Smartphone der Kinder zu überprüfen. Daher ist es wichtig, dass Kinder sich ihren Eltern von sich aus anvertrauen können. Dies fällt Kindern schwer, da sie ihre Überlegenheit in praktischer Medienkompetenz gegenüber ihren Eltern oft mit reflexiver Medienkompetenz verwechseln (vgl. Dekker, Koops & Briken, 2016, S. 3). Die Eltern können kaum das Gerät bedienen, noch wissen sie, wie Soziale Netzwerke funktionieren, wie sollen sie da bei Problemen helfen können? So kommt es zu einer Überschätzung der Medienkompetenz der Kinder, die zwar hervorragend mit den Geräten umgehen können, aber viel zu wenig über den sorgfältigen Umgang mit ihnen reflektiert nachdenken. Hier sind Lehrer und Eltern gefragt in praktischer Medienkompetenz aufzuholen, um auf Augenhöhe mit den Kindern zu kommunizieren und sie im Gegenzug zu einem reflektierten Medienumgang erziehen zu können. Wir bei Kitext glauben, dass Medienkompetenz ein wichtiger Bestandteil des Kinderschutzes gegen Cyber-Grooming darstellt. Gleichzeitig muss auch auf technischer Seite aufgerüstet werden, um Eltern in ihrer Kontrollfunktion zu entlasten und weniger Angriffe durch Pädokriminelle zuzulassen.
Das Titelbild stammt von Gerd Altmann (Pixabay).