Opfer sein und davon erzählen
Geschrieben von patrick am 17.11.2017
Die Veränderung des Wortes “Opfer”
Der Begriff Opfer hat in den letzten fünfzehn Jahren eine unerwartete alltagssemantische Entwicklung durchmachen müssen. Dies ist bereits mit unzähligen anderen Wörtern geschehen. Statt des früher gängigen medizinischen Fachausdrucks Idiot wurde geistig Behinderter gesagt. Da behindert seit einigen Jahren eine Beleidigung darstellt und eine Unterscheidung zwischen behindert und nicht behindert vornimmt, sagt man nun Mensch mit Beeinträchtigung. Euphemismus-Tretmühle nennt sich dieses Phänomen. Ein neutraler Begriff erhält eine negative Konnotation und wird als nicht mehr angemessen empfunden. ”Ey, du Opfer!”, ist ein beliebter Auftakt zu Erniedrigung, Pöbelei oder Gewaltausbrüchen. Opfer ist zum Schimpfwort mutiert, Opfersein zur Schande.
Victim Blaming
Bis zu Neubesetzung des Wortes “Opfer”, konnte jeder, ohne sich Spott auszusetzen, von sich sagen: “Ich bin (das/ein) Opfer.” Wer würde sich heutzutage noch als “Opfer” outen? Die Neuinterpretation des Wortes, dreht die Schuldfrage um. Zuvor wurde man zum Opfer. Heute lässt man sich zum Opfer machen. Wer heute Opfer ist, war zu schwach und hat es demnach nicht anders verdient. Natürlich gab es schon seit jeher Victim Blaming. “Hätte sie nicht einen so kurzen Rock getragen…”, “Wer sich in Gefahr begibt, kommt darin um” und so weiter. Gegen die Art der Fehlattribution einer Schuld wird mittlerweile kräftig vorgegangen. Die #metoo Bewegung hat viele Frauen ermutigt, an die Öffentlichkeit zu treten und ihre Angst vor Victim Blaming zu überwinden.
Kinder berichten nicht von sexuellem Missbrauch
Trotz #metoo bringen Kinder und Jugendliche, die Opfer einer Sexualstraftat werden, nicht den Mut auf, sich als Opfer zu bekennen. Gründe dafür, dass Kinder ihren Eltern nicht von sexuellen Übergriffe erzählen, sind vielfältig:
- Die Eltern werden nicht als geeignete Gesprächspartner empfunden.
- Es existiert eine generelle Scham bei der Auseinandersetzung mit sexuellen Themen.
- Es wird Druck durch den Täter ausgeübt, damit das Opfer nichts von dem sexuellen Missbrauch erzählt.
- Schuldgefühle
Vor allem der letzte Punkt ist für viele Opfer ein großes Hindernis. Auch wenn das Kind sich nicht bewusst in Gefahr begeben hat, fürchtet es die Bestrafung durch die Eltern. Woran liegt das? Weil die Kinder den Eindruck haben, sie trügen eine Mitschuld an dem sexuellen Missbrauch an ihnen. Sie haben sich schließlich in Gefahr begeben und vielleicht sogar ohne Erlaubnis das Internet verwendet. Außerdem wurden sie ja nicht körperlich gezwungen, Nacktbilder von sich zu machen oder weiterhin mit dem Täter zu reden. Genau wie die Frauen, die vor #metoo nicht geredet haben, befürchten auch Kinder, man könne ihnen eine Teilschuld an den Geschehnissen geben. Wir schließen uns der Meinung und Empfehlung von erfahrenen Jugendschützern wie Julia von Weiler (Interview) an und raten Eltern, ihren Kindern klarzumachen, dass sie in solchen Fällen keine Bestrafung zu erwarten haben. Denn nicht sie als Opfer sind schuld am sexuellen Missbrauch, sondern der Täter. Foto: Lum3n.com